Anfang März zu Beginn der Pandemie lag die Reproduktionszahl noch bei drei. Dank der strengen Ausgangsbeschränkungen und den weiteren Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sank die wichtige Kennziffer in den letzten Tagen auf 0,9. Wie der Präsident des Robert Koch Institut, Lothar Wieler, am 28. April bekannt gab, sei die Reproduktionszahl derzeit auf 0,96 angestiegen – ein Infizierter steckt damit im Mittel einen weiteren Menschen an. Wichtig ist, dass die Kennzahl regional stark schwanken kann, da sich das Virus unterschiedlich stark in den Regionen verbreitet.

Kleine Steigerung kann erhebliche Folgen haben

Das RKI hat immer wieder betont, um die Epidemie abflauen zu lassen, müsse diese Reproduktionszahl unter 1 liegen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Zuge der Ankündigung erster Lockerungen der Schutzauflagen deutlich gemacht, dass schon vermeintlich kleine Änderungen der Reproduktionszahl erhebliche Folgen haben können.

Wieler appellierte aufgrund des aktuellen Anstiegs daher erneut in einem Presse Briefing an die Bevölkerung. „Es ist ein Erfolg, den wir uns hier alle erarbeitet haben. Es ist uns in Deutschland vergleichsweise gut gelungen durch diese Epidemie zu kommen“, sagte Wieler. Dennoch gelte es nun, den bisherigen Erfolg zu verteidigen. Dafür sei es nötig, weiter zuhause zu bleiben, Abstand zu halten und die Maskenpflicht zu befolgen. „Wir wollen nicht, dass die Fallzahlen wieder zunehmen, dass das Gesundheitssystem überfordert wird, dass noch mehr Menschen an Covid-19 sterben.“ Zudem verdeutlicht Wieler noch einmal, dass der Faktor R nur ein Wert sei, den man in den Blick nehmen müsse. Er allein könne dennoch zu falschen Schlussfolgerungen führen.

Die Gesamtzahl der Infektionen in Deutschland war bis gestern (27. April) um 1144 auf 156.337 gestiegen, wie das RKI mitteilt. Die Zahl der Covid-19-Todesfälle stieg um 163 Menschen auf 5913 Tote. Nach Schätzungen RKI haben in Deutschland rund 114.000 Menschen die Infektion überstanden. Wie für andere Länder rechnen Experten auch in Deutschland mit einer hohen Dunkelziffer nicht erfasster Fälle.

Herdenimmunität: „gefährlich und naiv“

Ein viel diskutierter Ansatz zur Bekämpfung des Virus ist die Herdenimmunität. Hier wird davon ausgegangen, dass sich eine Person nach durchgemachter SARS-CoV-2 Infektion nicht erneut mit dem Virus anstecken kann. Im Falle der Atemwegserkrankung Covid-19 kann von einer Herdenimmunität gesprochen werden, wenn etwa 70 Prozent der Bevölkerung eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus durchgemacht haben und das Virus ihrerseits nicht mehr weiterverbreiten können.

Wie groß der gegen ein Virus immunisierte Anteil der Bevölkerung sein muss, um die Verbreitung desselben zu stoppen, hängt von der Basisreproduktionszahl R0 ab. Bei SARS-CoV-2 liegt R0 zwischen 2,4 und 3,3, das heißt jeder Infizierte steckt ohne Gegenmaßnahmen im Mittel etwas mehr als zwei bis etwas mehr als drei Personen an. Etwas mehr als zwei Drittel der Bevölkerung müssen daher gegen das Virus immun sein, um seine Ausbreitung zu stoppen. Immunität kann dabei entweder durch die Verabreichung eines geeigneten Impfstoffs oder die durchgemachte Infektion mit dem Virus erreicht werden.

Das Prinzip der Herdenimmunität verfolgt beispielsweise Schweden deutlich stärker als Deutschland, in dem wesentlich lockerere Beschränkungen getroffen wurden. Wieler meint hierzu: „Dieses Virus hat einige Eigenschaften, die uns zu dem Schluss kommen lassen, dass wir eine kontrollierte Herdenimmunität einfach nicht riskieren können.“ Dazu würden die hohe Ansteckungsrate und die leichte Übertragbarkeit zählen.

Man könne das Virus und seine Verbreitung nicht kontrollieren, mahnt Wieler und spricht sich abschließend klar gegen den Ansatz Herdenimmunität aus: „Das ist eine Ansicht, die meiner Ansicht nach gefährlich ist – ich würde sogar sagen, sie ist naiv. Man müsste, wenn man über diese Dinge nachdenken möchte, darüber nachdenken, wie viele Menschenleben man in Kauf nehmen möchte.“

Besonders habe man aktuell immer noch kein Medikament, mit dem man das Virus angreifen könne und auch keinen Impfstoff. „Deshalb ist diese Debatte für mich fachlich nicht nachvollziehbar“, sagt Wieler.

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